Zurückliegende Veranstaltungen
Führung durch die Sonderausstellung
am 4. Juni, 2023, 15:00 Uhr
in der Alten Kirche Hornau
mit dem Historiker Rüdiger Kraatz
In einem historischen Überblick stellte Rüdiger Kraatz frühe Formen von Versammlungen mit Herrschern und ausgewählten Untertanen vor. Seit dem Mittelalter waren in Europa vor allem drei Kräfte ins Machtspiel getreten, mit denen die Herrscher in Verhandlung treten mussten: der hohe Adel (z. B. bei der Magna Charta), die großen Städte (mit ihrer wachsenden Wirtschaftskraft und einem sich emanzipierenden Patriziat) und die freie Bauern, für die es bis weit in die Neuzeit noch Möglichkeiten der Selbstverwaltung und Verteidigung gegen Unterdrückung gab. Das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen und der Industriellen Revolution haben die alten Ständesysteme dann radikal verändert. Frankreich spielte 1789, 1830 und 1848 die Vorreiterrolle, auch für die Entwicklungen von Verfassungen.
Die Führung folge im Wesentlichen den Exponaten der Ausstellung: von Beispielen der Gegenwart über die Geschehnisse 1848/49 bis zum Parlamentarismus heute.
Es wurde versucht, die Ereignisketten der Revolution plastisch darzustellen, mit allen Problemen der parlamentarischen Auseinandersetzungen bis hin zu den europäischen Verwicklungen im 19. Jahrhundert. Errungenschaften der Paulskirchenversammlung wurden den Vorwürfen gegenübergestellt, die Revolution sei gescheitert.
In einer Rückschau bis zum Paulskirchenparlament wurden die Bruchlinien und Entwicklungen deutscher Geschichte illustriert und eröffneten Gelegenheiten für durchaus kontroverse Denkansätze. Hierzu wurden Beispiele aus verschiedenen Perspektiven historischer Berichte vorgestellt und die Bedeutung möglichst wertfreier, dem Streben nach Objektivität verpflichteter Arbeit hervorgehoben.
Ausführende Bemerkungen
Die Bemerkungen am Ende des Kurzberichts verdienen einige Erläuterungen:
Man kann die Revolution 48/49 aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Zwei grundsätzlich verschiedene Untersuchungsweisen fallen auf: Einige Autoren wie Klingelschmitt und Jörg Bong schreiben, um eine politisch-historische Botschaft zu präsentieren. In ihren Schriften werden die Brüder v. Gagern als Verräter an der Revolution gebranntmarkt, Friedrich v. Gagern gar als „Bluthund“ stilisiert, wie man es mit Noske zur Weimarer Zeit tat. Sie beklagen, dass wegen der Liberalen die Revolution in ihrer Weiterentwicklung zu einer Republik abgebrochen worden sei. Damit wäre ein historischer Weg vorgezeichnet worden, der letztlich in die NS-Diktatur mündete.
Historiker wie Veit Valentin in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts oder Frank Eyck in den Siebzigern untersuchen dagegen die Ereignisketten mit der Absicht, ausgewogen und möglichst objektiv zu urteilen, wenn auch bei ihnen ein eigenes Urteil sichtbar wird. Die erste Gruppe, das ist kaum verwunderlich, sind hauptberuflich Journalisten, die es gewohnt sind, Meinungen zu beeinflussen oder zu erzeugen. Die Gruppe der Historiker zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihr persönliches Urteil hinter eine genaue Analyse stellen.
Ein weiteres Kontrastbild entsteht, wenn man die historische Literatur danach sichtet, wie die Autoren die Entwicklung zum Nationalsozialismus betrachten. Die meisten deutschen Historiker der Nachkriegszeit (wie Heinrich August Winkler, Eckart Conze oder Thomas Nipperdey) betrachten die NS-Zeit als ein singuläres Ereignis, dessen Brutalität und Einzigartigkeit immer wieder ins Zentrum gerückt werden müsse.
Ein typisches Beispiel für diese historische Sicht bietet Heinrich August Winkler. Er zitiert den Historiker Rudolf Stadelmann (1945), welcher das Ausbleiben einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution in Deutschland des 19. Jahrhunderts zu erklären versucht: „Die deutsche Sonderform des aufgeklärten Fürstenstaates habe aber letztlich in eine Sackgasse geführt; ihre Nachwirkungen erklärten mit das Scheitern der Revolution von 1848/49. < Das Gift einer unausgetragenen verschleppten Krise kreist ab 1850 im Körper des deutschen Volkes. Es war die typische Krankheit des ‚Landes ohne Revolution‘> (Stadelmann). Es bedurfte der Niederlagen in zwei Weltkriegen, um in Deutschland ein gründliches Nachdenken über die tieferen Ursachen des Weges in die Katastrophe in Gang zu setzen.“ (Literaturangabe unten, S. 218). In dieser Tradition, nur wesentlich weiter von „links“ argumentierend, steht auch Jörg Bong, der die liberalen Parlamentarier um von Gagern als „Verräter“ brandmarkt und in seinem jüngsten Werk nachzuweisen versucht, wie viel revolutionäres Potential in der Volksbewegung der Jahre 1848/49 steckte. Dazu meine Bemerkungen auf S. 20.
Im Jahr 2020 hat Hedwig Richter eine alternative Betrachtungsweise vorgestellt. Sie betont die Bedeutung demokratischer Tendenzen in der deutschen Geschichte, mit der Bundesrepublik als vorläufigem Endpunkt. Richter verharmlost den Nationalsozialismus keineswegs, aber unter ihrer Schwerpunktsetzung erscheint die Nazi-Epoche eher als „Betriebsunfall“, als eine Phase, auf die alles hinauslaufen musste. Sie schreibt: „Doch die Besinnung auf die Geschichte zeigte sich nicht nur in der Abwehr, sondern auch in der Aneignung von konstitutionellen und demokratischen Traditionen. Die deutsche Demokratie war kein oktroyierter Fremdkörper, sie kam nicht als unbekannter Importartikel daher, sie entsprang auch nicht der demokratischen Schatztruhe der Alliierten, sondern sie schöpfte aus deutschen historischen Erfahrungen.“
Je nachdem, welcher Richtung man zuneigt, erscheint die Revolution von 48/49 und die Familie derer von Gagern z.B. in einem ganz anderen Licht. Sie werden „positiver“ angestrahlt, je mehr man sie als Etappe auf dem Weg zu einer demokratischen Zukunft würdigt.
Im Zuge der Feiern zum 175ten Jahrestag der Paulskirchenversammlung mehren sich die Bemühungen, dieses Jubiläum als gesamteuropäisches Demokratieereignis zu würdigen. Im Verteidigungskampf um die bundesrepublikanische Demokratie werden Erinnerungsorte und freiheitliche Gründungsmythen für unser kollektives Gedächtnis gesucht. In diesem Zusammenhang erscheint die Revolution von 1848/49 als modellbildender Vorläufer der Bundesrepublik. Auch die Weimarer Republik „soll eben nicht länger nur die Vorgeschichte des unvermeidlichen Untergangs sein, sondern der Beginn einer starken, wehrhaften und modernen Demokratie, der womöglich ein langes, glückliches Leben beschieden gewesen wären, wären da nicht ihre antidemokratischen Eliten gewesen, die sie von innen heraus zersetzt und am Ende zerschlagen hätten.“ (Peter Neumann in „Die Zeit“ v. 17.5.2023)
In dieser Begründungskette scheint hinwiederum die Analyse der Ursachen des Nationalsozialismus in Deutschland etwas in den Hintergrund zu geraten. Die Diskussionen werden mit Sicherheit lebhaft weitergeführt werden.
Text: Rüdiger Kraatz
Fotos: Jürgen Moog
Sonntag, 04. Juni 2023 15:00 Uhr